Lab Innovation
28.09.2023 | Process Innovation
Wenn Zwillinge in die Pubertät kommen, sind Wachstumsschmerzen vorprogrammiert. Auch der digitale Zwilling bildet hier keine Ausnahme. Seit etwas mehr als einem Jahrzehnt versprechen sich Automatisierer und Digitalisierer großen Nutzen aus der Abbildung realer Anlagen in der digitalen Welt: Zur Prozessoptimierung lassen sich mit ihm Szenarien und Optionen simulieren, angehende Anlagenbediener nutzen ihn zu Trainingszwecken, Instandhalter ergänzen den Zwilling um Analysetools, um so Wartungsbedarfe frühzeitig zu erkennen und die Wartung optimal zu planen.
Doch für den digitalen Zwilling in der Chemie gilt bislang dasselbe, wie für die Digitalisierung der Branche insgesamt: Von einem flächendeckenden Einsatz und durchgängigen Datenströmen ist die Prozessindustrie noch weit entfernt. Diese sind allerdings notwendig, wenn das Ziel einer klimaneutralen Chemie erreicht werden soll. Denn bis 2050 – dem von den meisten Chemienationen erklärten Jahr, ab dem klimaneutral gewirtschaftet werden soll – wird der Bedarf an Chemikalien kontinuierlich weiter steigen. Auf dem klassischen Weg aus Erdöl oder Erdgas werden sich diese Mengen nicht klimaneutral darstellen lassen. Die Chemie muss und wird sich auf einen Transformationspfad begeben, der weg von der linearen Wirtschaft (Nehmen-Herstellen-Entsorgen) und hin zu einer Kreislaufwirtschaft führt, in der Produkte am Ende ihres Lebenszyklus wieder zum Rohstoff für neue Chemikalien werden. Doch dafür muss der digitale Zwilling erwachsen werden und darf sich nicht mehr alleine um die Fabrik drehen: Die gesamte Supply Chain muss Teil des virtuellen Abbilds werden.
In einer Kreislaufwirtschaft interessiert die Beteiligten über Unternehmensgrenzen hinweg, wo welche Feedstocks in welcher Qualität verfügbar sind. Störungen in der Lieferkette müssen dabei genauso berücksichtigt werden, wie deren Folgen für die Produktion und die Lieferfähigkeit. Sind diese Daten transparent und in Echtzeit verfügbar, lassen sich auch Produktionsprozesse planen, umrüsten oder an veränderte Rohstoffe anpassen. Transparenz ist auch deshalb wichtig, damit Emissionen für jedes Produkt exakt bilanziert werden können – so lässt sich nicht nur wettbewerbsverzerrendem Greenwashing vorbeugen, sondern auch Nachhaltigkeitsbilanzen können dadurch einfacher erstellt werden – auf deren Basis die richtigen Entscheidungen getroffen werden können, um das Net-Zero Ziel zu erreichen.
Dazu kommt ein weiterer Komplexitätsgrad: Die Transformation des Energiesystems führt dazu, dass immer mehr Prozesse von fossilen Energieträgern auf Strom aus erneuerbaren Energien umgestellt werden – die Elektrifizierung der Chemie ist bereits in vollem Gang. Doch Strom aus Wind- und Sonnenenergie steht nicht kontinuierlich zur Verfügung. Wo bislang Anlagen für einen kontinuierlichen Betrieb auf Basis jederzeit verfügbarer Energieträger und Rohstoffe geplant wurden, werden sich künftig die Betreiber wirtschaftliche Vorteile erschließen, die ihre Prozesse flexibel am Energie- und Rohstoffaufkommen ausrichten. Hinzu kommt das übergeordnete Ziel, Energiewirtschaft, Industrie, Verkehr und Gebäude im Sinne der Sektorkopplung miteinander zu verbinden und gemeinsam zu optimieren. Auch diese Dimension macht die Steuerung der Chemieproduktion komplexer. Und spätestens hier wird deutlich, dass der Mensch allein angesichts der Fülle an Optimierungszielen und Einflussgrößen überfordert ist: Der Schlüssel zu einer holistischen Optimierung liegt auch deshalb in digitalen Tools.
Großen Nutzen und Unterstützung bei der Entscheidungsfindung verspricht sich die Industrie hier von neuen Werkzeugen auf Basis von maschinellem Lernen und künstlicher Intelligenz. Diese spielen ihre Stärken überall dort aus, wo große Datenmengen vorhanden sind – und hier liegt die Crux: Die Chemieunternehmen produzieren heute zwar bereits so viele Daten wie nie zu vor, häufig ist der Datenbestand jedoch inkonsistent und häufig fehlt der Kontext – beispielsweise über die Zusammenhänge in Stoffkreisläufen. Das Problem ist bekannt und die Branche arbeitet längst an Lösungen: In der 2011 von BASF, Bayer und Evonik gegründeten DEXPI-Initiative wurde beispielsweise ein neutrales Datenformat definiert, mit dem Prozessinformationen zwischen Softwareprodukten verschiedener Hersteller von Ingenieurswerkzeugen ausgetauscht werden können. Die aktuelle Manufacturing-X-Initiative geht noch einen Schritt weiter: Die Akteure der Plattform Industrie 4.0 haben sich damit zum Ziel gesetzt, den Datenraum Industrie 4.0 und die Transformation zu einer digital vernetzten Industrie in der ganzen Breite zu realisieren. Schließlich soll so eine datenbasierte Wirtschaft geschaffen werden.
Doch für all diese Initiativen gilt dieselbe Grundvoraussetzung wie auch für die Kreislaufwirtschaft: Sie benötigen Transparenz über Prozesse und eingesetzte Ressourcen in der ganzen Wertschöpfungskette; und sie setzen voraus, dass Daten auch über Unternehmensgrenzen hinweg geteilt werden, ohne dass dieses zu einem Know-how-Abfluss bei den Unternehmen führt. Und häufig entsteht der Nutzen aus der Digitalisierung – beispielsweise der Produktion – an einer ganz anderen Stelle; ohne eine ganzheitliche Sicht fehlt Prozessbetreibern häufig der Business Case und damit die Motivation für Investitionen in Digitalisierung. Selbst innerhalb der Unternehmen klaffen Datenlücken: Ein inzwischen schon klassisches Beispiel ist der informationstechnische Bruch zwischen Anlagenplanung und Betriebsphase: Häufig müssen in Digitalisierungsprojekten Daten mühsam rekonstruiert werden, die in der Planung zwar bereits digital vorhanden waren, aber aufgrund unterschiedlicher Zuständigkeiten nicht in einem digital lesbaren Format weitergegeben wurden. In einer künftigen Kreislaufwirtschaft müssen zudem Informationen zu einem Produkt über dessen Lebenszyklus hinweg weitergegeben werden – hier könnte unter anderem der Einsatz von Blockchain-Lösungen für durchgängige Informationsströme in der Wertschöpfungskette sorgen. Die Beispiele zeigen: Digitalisierungsverantwortliche müssen ihren Blick auf die gesamte Wertschöpfungskette richten.
In diesem Kontext verändert sich auch die Rolle der Prozessautomatisierer: Diese schaffen einerseits die Voraussetzungen für konsistente Datenströme, andererseits tragen sie dazu bei, die Datenströme zu managen. Dass die Grenzen zwischen IT (Informationstechnologie) und OT (Operational Technology) verschwimmen, lässt sich bereits bei zahlreichen Unternehmen der Chemie beobachten – Industrie 4.0 und die digitale Transformation führen zu einer verstärkten Konvergenz von IT und OT und der Integration und Vernetzung von Systemen. Diese müssen in der Chemie jedoch immer vor dem Hintergrund hoher Sicherheitsanforderungen erfolgen.
Auch die aktuellen Initiativen der Prozessautomatisierer sind Teil des Zielbilds einer digitalisierten Chemie: Die Ethernet-basierte Kommunikationstechnologie APL (Advanced Physical Layer) soll der Digitalisierung des Feldes (Sensoren, Aktoren) zum Durchbruch verhelfen. Mit der Namur Open Architecture (NOA) werden bislang in Feldgeräten gestrandete Daten für Optimierungsanwendungen – beispielsweise in Cloud-Applikationen – nutzbar: zum Beispiel um Anomalien zu erkennen oder um Wartungskosten, Energie- und Rohstoffverbräuche zu reduzieren. Flexibilität verspricht der Ansatz der Modulautomation: Über das Module Type Package (MTP) werden Anlagenmodule standardisiert beschrieben – dadurch sinkt der Integrationsaufwand beim Zusammensetzen modularer Anlagenkomponenten massiv. Allein für den Engineeringaufwand werden mit MTP bis zu 70 % Zeiteinsparung erwartet. Und noch ein weiteres Akronym ist in diesem Kontext wichtig: OPA-S. Mit dem Open Process Automation Standard wird derzeit eine standardisierte und herstellerunabhängige Architektur für die Automatisierung von Prozessanlagen geschaffen. Vor allem die Interoperabilität zwischen Geräten und Systemen verschiedener Hersteller soll so gefördert werden. Dadurch können Anlagenbetreiber ihre Systeme einfacher skalieren und erweitern und besser auf Daten aus verschiedenen Quellen zugreifen.
Ohne Digitalisierung wird die Chemie ihre ambitionierten Ziele im Hinblick auf Net-Zero-Emissionen und Kreislaufwirtschaft nicht erreichen. Bislang mangelt es oft an durchgängiger Datenkonsistenz und einer ganzheitlichen Betrachtung. Prozessautomation und der digitale Zwilling sind zentrale Bausteine der Digitalisierung, wobei deren Implementierung weit über die reine Anlagenautomatisierung hinausgehen muss, um die gesamte Wertschöpfungskette abzubilden. Aktuelle Initiativen und Technologien der Prozessautomation wie APL, NOA, MTP und OPA-S bieten vielversprechende Ansätze für die Umsetzung. Sie sind jedoch nur ein kleiner Ausschnitt aus einem ganzheitlichen Gesamtbild digitaler Geschäftsprozesse. Um die Vorteile der Digitalisierung voll auszuschöpfen, müssen Daten fließend, konsistent und im richtigen Kontext geteilt und genutzt werden. Erst dann wird der digitale Zwilling tatsächlich erwachsen werden.
Autor
Chemieingenieur und freier Fachjournalist
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