12.04.2023 | Green Innovation
Die Energiekrise infolge des russischen Angriffskriegs auf die Ukraine hat 2022 Schockwellen durch die globale Chemieindustrie geschickt. Allen voran Deutschland und Chemienationen in Europa, die nur auf wenig eigene Energieressourcen zurückgreifen können, haben die rasant gestiegenen Gaspreise hart getroffen. In der Folge ist der Druck hin zu effizienteren Prozessen und neuen Energiequellen deutlich gestiegen. Doch ein Umdenken bei der Rohstoff- und Energiebasis war schon zuvor in vollem Gange. Denn Chemienationen und globale Chemiekonzerne arbeiten längst am Ziel „Net Zero“ und wollen den Ausstoß von Treibhausgasen bis 2070 (Indien), 2060 (China und Russland) oder bereits bis 2050 (alle anderen Chemienationen) beenden.
Das Vorhaben ist ehrgeizig: Allein in Europa wird die Chemieindustrie nach Schätzungen der Beratungsunternehmen Accenture und Nexant ECA 1 Billion Euro dafür investieren müssen. 400 bis 600 Milliarden Euro entfallen dabei auf die Modifikation und den Neubau von Produktionsanlagen für die acht wichtigsten Chemikalien Ammoniak, Ethen, Propen, Salpetersäure, Ruß, Caprolactam, Soda und Fluorchemikalien. In den USA und China werden die Investitionen noch deutlich höher ausfallen. Dem Chemieanlagenbau kommt dabei eine Schlüsselrolle zu: Die Mammutaufgabe besteht darin, neue Technologien in kürzester Zeit in den großtechnischen Maßstab zu skalieren – eigentlich die Paradedisziplin der Branche.
Schon seit mehreren Jahren registrieren die Unternehmen des Anlagenbaus ein steigendes Interesse ihrer Kunden nach Lösungen zur Dekarbonisierung der Chemie-Wertschöpfungsketten. Angesichts hoher Preise für Erdgas und andere Energieträger hat die Entwicklung im Jahr 2022 deutlich an Fahrt aufgenommen. Durch die Bank berichten die globalen Anbieter im Chemieanlagenbau in ihren aktuellen Geschäftsberichten von einem steigenden Anteil an Aufträgen für nachhaltige Lösungen. Doch der Markt hat sich gegenüber den Corona-Jahren 2020 und 2021 deutlich geändert: Auch das klassische Öl- und Gasgeschäft brummt. Gestiegene Preise für Rohöl und Erdgas haben 2022 zu einer Wiederbelebung der Upstream-Aktivitäten geführt. Mit Projekten im Wert von über 2 Billionen US-Dollar erreichten die Investitionen der Öl- und Gasindustrie im Jahr 2022 ein neues Rekordhoch. Und weil die größten Unternehmen des Chemieanlagenbaus in der Regel auch ein Standbein im Öl- und Gasgeschäft haben, werden die Anlagenbau-Kapazitäten knapp.
Verschärft wird die Nachfrage nach Lösungen des Anlagenbaus zudem von der Politik: So wird geschätzt, dass allein der 2022 von der US-Regierung beschlossene Inflation Reduction Act (IRA) bis 2030 im Bereich Energiesicherheit und Klimaneutralität zu Investitionen in Höhe von 369 Milliarden US-Dollar führen kann. In ähnlicher Größenordnung plant die EU-Kommission mit ihrem Programm REPowerEU und auch Japan will im Rahmen des Programms Green Transformation massiv investieren.
Multinationale Anbieter wie Fluor, Worley, Technip oder Samsung Engineering berichteten zuletzt nicht nur über deutlich gestiegene Auftragseingänge, sondern auch über spektakuläre Dekarbonisierungsprojekte ihrer Kunden. Für Aufsehen sorgte im Dezember beispielsweise der Baubeginn für einen neuen Steamcracker im Hafen von Antwerpen: Der britische Petrochemiekonzern Ineos errichtet dort unter dem Titel „Project One“ einen Ethan-Cracker, der nach der Inbetriebnahme im Jahr 2026 rund 50 % weniger Treibhausgas emittieren soll als die bislang effizientesten Anlagen dieser Art. Mit 3,5 Mrd. Euro sei es das größte Investitionsprojekt der europäischen Chemie in den vergangenen 25 Jahren. Den Auftrag für die Technologielizenz und das Front-End-Engineering and Design (FEED) hat sich Technip Energies gesichert. Erst 2021 aus der französischen Technip hervorgegangen, konzentriert sich das Anlagenbau-Unternehmen auf Engineering- und Technologielösungen für die Energietransformation.
Das spektakuläre Projekt ist nur eines von vielen: Nahezu alle Chemieunternehmen, die Steamcracker betreiben, arbeiten inzwischen an klimafreundlichen Lösungen für die Spaltöfen – denn Ethen ist der Ausgangspunkt für viele Kunststoffe und Basischemikalien und pro Tonne Ethen entstehen bislang fast 700 Kilogramm Kohlendioxid. Das Vorhaben ist so gewaltig, dass dafür neue Kooperationen zwischen Anlagenbau und Betreibern notwendig sind – und sogar wettbewerbsübergreifend: So entwickeln aktuell BASF, Sabic und Linde gemeinsam einen elektrisch beheizten Spaltofen. Parallel treiben Dow und Shell gemeinsam mit Forschern der niederländischen TNO die Elektrifizierung von Steamcrackern voran. Gemeinsam mit dem Anlagenbauer Fluor will Dow im kanadischen Fort Saskatchewan einen Steamcracker mit Netto-Null-CO2-Emissionen bauen. Der brasilianische Chemiekonzern Braskem will seine Cracker gemeinsam mit dem finnischen Technologie- und Anlagenbau-Unternehmen Coolbrook elektrifizieren.
Und die Zeit drängt: Weil vor allem Großanlagen in der Chemie über mehrere Jahrzehnte betrieben werden, müssen heute geplante Projekte mit Blick auf 2050 Netto-Null-fähig sein. Vielversprechende neue Verfahren wie die Methanpyrolyse oder die Methanolsynthese aus Biomasse bzw. Elektrolysewasserstoff stehen aktuell noch nicht für den Großmaßstab zur Verfügung. Sobald die Verfahren im Labor entwickelt sind, kommt dem Anlagenbau die Aufgabe zu, diese „First-of-a-kind“-Lösungen aus dem Labor in den großtechnischen Maßstab zu skalieren.
Eine Schlüsselrolle spielt deshalb – zumindest als Brückentechnologie – das Abscheiden und Speichern von CO2, Carbon Capture and Storage (CCS). Auf diesen Weg setzen beispielsweise Dow und Ineos in ihren aktuellen Cracker-Projekten, aber auch für andere Chemieprozesse wie die Ammoniakproduktion kann so das Netto-Null-Ziel gelingen. Für Aufsehen sorgte im März 2023 der erste Schiffstransport von Kohlendioxid, das in einer Chemieanlage von Ineos in Antwerpen abgeschieden worden war: Dieser markierte den Start des grenzüberschreitenden Greensand-Projekts, bei dem jährlich bis zu 8 Mio. Tonnen CO2 in einem erschöpften Ölfeld vor der dänischen Nordseeküste gespeichert werden sollen. Beteiligt sind daran neben Ineos der Energiekonzern Wintershall DEA und der Anlagenbauer Aker Carbon Capture. Ebenfalls in Antwerpen entwickelt der Chemiekonzern BASF mit dem Anlagenbau- und Industriegase-Spezialisten Air Liquide ein CCS-Projekt. Insgesamt 200 kommerzielle CCS-Projekte hat das Global CCS Institute in 2022 recherchiert – eine Gesamtkapazität von 244 Mio. Tonnen pro Jahr. Doch das ist erst der Anfang: Das IPCC der Vereinten Nationen schätzt, dass bis 2050 jährlich mindestens 4 Gigatonnen CO2 über Carbon-Management-and-Removal-Technologien eingespart werden müssen, um das 1,5-Grad-Ziel zu erreichen. Damit dies Realität werden kann, sind intensive Kooperationen zwischen Chemieunternehmen, die Technologien und Chemikalien für die CO2-Abscheidung liefern, und Anlagenbau-Unternehmen mit Scale-up-Kompetenz notwendig.
CCS hat zudem das Zeug dazu, auch den Umstieg auf eine klimaneutrale Wasserstoffwirtschaft massiv zu beschleunigen: Weil die Wasserelektrolyse aus nachhaltig erzeugtem Strom noch lange nicht die von der Industrie und Chemie benötigten Mengen an grünem Wasserstoff liefern wird, ist blauer Wasserstoff eine klimafreundliche Option, die sehr schnell verfügbar ist: Dabei wird Wasserstoff weiterhin aus Erdgas gewonnen, das dabei entstehende Kohlendioxid aber abgeschieden und gespeichert.
Klar ist ebenfalls: Die Mammutaufgabe der Dekarbonisierung verändert auch den Chemieanlagenbau selbst. Schon in den vergangenen Jahren haben Projektflut und steigende Preise zu einem Paradigmenwechsel in der Vertragsgestaltung geführt. Konnten die Kunden ihre Kontraktoren vor einigen Jahren noch auf Festpreisverträge verpflichten, hat sich der Wind inzwischen zugunsten der EPC-Anbieter gedreht: So berichtet beispielsweise der Chemieanlagenbauer Worley, dass der Anteil der Festpreisverträge (Lump Sum Turn Key) am Umsatz auf 1 % zurückgegangen ist. 80 % der Aufträge rechnet das Unternehmen inzwischen nach Aufwand (Reimbursable) ab.
Im Zukunftsmarkt Wasserstoff planen Hersteller von Elektrolyseanlagen ihre Kapazitäten massiv auszubauen. Dazu gehören beispielsweise Thyssenkrupp Nucera, ITM Power oder die Siemens Energy AG, die für das Scale-up der Elektrolyseleistung mit Air Liquide kooperiert. Der Chemieanlagenbau wird für seine eigene Technologie- und Unternehmensentwicklung in den kommenden Jahren massiv Geld in die Hand nehmen. Und weil Kapitalgeber zunehmend Wert auf nachhaltige Geschäftsmodelle legen, müssen Unternehmen des Chemieanlagenbaus selbst in ihren Unternehmen nach ESG-Kriterien wirtschaften. In fast jedem Geschäftsbericht der Branche findet sich deshalb zuletzt der Hinweis auf Fortschritte in den Bereichen Umwelt (Environmental), Soziales (Social) und verantwortungsvolle Unternehmensführung (Governance).
Der Fokus auf einen Wertbeitrag zur Lösung des Klimaproblems und nachhaltiges Wirtschaften ist für den Anlagenbau auch noch aus einem anderen Grund wichtig: Dem Gewinnen von Talenten durch Employer-Branding. Denn zu den größten Herausforderungen der Branche gehört aktuell der Mangel an qualifizierten Fachkräften.
Weil nicht nur Personal, sondern auch weitere für den Chemieanlagenbau wichtige Ressourcen in den kommenden Jahren knapp bleiben werden, setzt die Branche auf Produktivitätssteigerung: Digitalisierung und Automatisierung von Engineeringprozessen und Künstliche Intelligenz sind nur einige Hebel, mit denen die Branche das Thema angeht. Einen radikalen Ansatz verfolgt dabei unter anderen der koreanische Chemieanlagenbauer Samsung Engineering: Bereits dieses Jahr will das Unternehmen seine EPC-Abwicklung so verändern, dass sich der Aufwand im Engineering und auf der Baustelle gegenüber 2018 halbiert. Eine Schlüsselrolle spielt dabei datengetriebenes Engineering, bei dem anstelle von Dokumenten eine Engineering-Data-Platform im Mittelpunkt steht. Darüber lassen sich Planungsabläufe in bislang unerreichtem Umfang automatisieren. Einen ähnlichen Ansatz verfolgt auch der dänische Anlagenbauer Haldor Topsoe, der sich vorgenommen hat, per datenzentriertem Engineering mehr Projekte zu niedrigeren Kosten zu realisieren.
Andere Chemieanlagenbauer setzen verstärkt auch maschinelles Lernen und künstliche Intelligenz ein, um beispielsweise Risiken in Projekten zu identifizieren oder P&ID-Zeichnungen zu lesen und digital auswertbar zu machen. Auf der Baustelle sollen zudem künftig Roboter, Drohnen und auch 3D-Drucker zum Einsatz kommen, um die Bauzeit zu verkürzen. Ein plakatives Beispiel ist das Projekt HUGRS des saudischen Petrochemiekonzerns Aramco: Dort lässt Samsung Engineering erstmals ein Gebäude komplett aus dem 3D-Drucker entstehen.
Fazit: Der globale Chemieanlagenbau ist mit seiner Lösungskompetenz ein wichtiger Enabler für die Dekarbonisierung der Chemie und die Energietransformation der Wirtschaft. Die Herausforderung knapper Personal- und Engineeringressourcen packt die Branche durch Digitalisierung und Investitionen in das eigene Geschäft an.
Autor
Chemieingenieur und freier Fachjournalist
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